Die abnehmende Sicherungsfunktion der Verrechnungssteuer

<article class="rz"><p>Das aktuelle Verrechnungssteuergesetz trat 1965 in Kraft.^{<a title="" href="#_ftn1" name="_ftnref1">01</a>} Damals wollte der Gesetzgeber die Bev&ouml;lkerung nicht mit einer zus&auml;tzlichen Steuer belasten, sondern im Vordergrund stand die Sicherung der Veranlagung der Einkommens- und Verm&ouml;genssteuern und damit die Bek&auml;mpfung der Steuerhinterziehung beim Bund, den Kantonen und den Gemeinden.^{<a title="" href="#_ftn2" name="_ftnref2">02</a>} Die Kombination aus Quellensteuer und R&uuml;ckerstattung schafft ein Anreizsystem, mit dem die Steuerbeh&ouml;rden auf eine vollst&auml;ndige Steuerdeklaration der Steuerpflichtigen vertrauen k&ouml;nnen. Im Steuerrechtsverh&auml;ltnis zwischen dem Staat und den Steuerpflichtigen nimmt die Verrechnungssteuer damit eine zentrale Stellung ein und bildet einen Ausgleich zum steuerlichen Bankgeheimnis. Traditionell steht deshalb bei der Verrechnungssteuer die Sicherungsfunktion im Vordergrund, obwohl der Bundesrat schon beim Inkrafttreten feststellte, dass die Einnahmen aus der Verrechnungssteuer stetig anstiegen. Dennoch ist nicht zu &uuml;bersehen, dass die wirtschaftliche Bedeutung des Fiskalzwecks seit Jahren massiv zugenommen hat: Betrugen die Einnahmen aus der Verrechnungssteuer nach R&uuml;ckerstattung Ende der 1960er Jahren noch zwischen CHF 550 Mio. und CHF 580 Mio., stiegen diese bis 2019 auf fast CHF 8.3 Mrd. an.^{<a title="" href="#_ftn3" name="_ftnref3">03</a>} Gleichzeitig gibt es dank der Digitalisierung zunehmend neue technische M&ouml;glichkeiten, um die richtige Deklaration sicherzustellen und die Steuerhinterziehung zu bek&auml;mpfen. Das Gleichgewicht zwischen den Steuerbeh&ouml;rden und den Steuerpflichtigen h&auml;ngt deshalb immer weniger vom Anreizsystem der Verrechnungssteuer ab. Die Sicherungsfunktion der Verrechnungssteuer, die seit 1965 nicht mehr grundlegend &uuml;berarbeitet wurde, bedarf deshalb einer Aktualisierung.</p> <p>Aus diesem Grund w&auml;re die Einf&uuml;hrung einer Zahlstellensteuer zu begr&uuml;ssen. Die Zahlstellensteuer w&uuml;rde das Anreizsystem der Verrechnungssteuer an die neuen technischen M&ouml;glichkeiten anpassen. Dieser Versuch scheiterte aber am bef&uuml;rchteten Verwaltungsaufwand &ndash; vor allem aber auch an den weiterhin bestehenden Vorstellungen des steuerlichen Bankgeheimnisses im Inland, die sich seit dem Inkrafttreten der Verrechnungssteuer nur unwesentlich ver&auml;ndert zu haben scheinen. Zu begr&uuml;ssen ist deshalb, dass der Bundesrat seine Strategie anpasst und zuerst die negativen wirtschaftlichen Folgen des veralteten Anreizsystems korrigiert. Im Kern m&ouml;chte der Bundesrat die Verrechnungssteuer auf Obligationszinsen abschaffen und damit den inl&auml;ndischen Markt f&uuml;r Fremdkapital st&auml;rken. Dadurch erhofft sich der Bundesrat positive volkswirtschaftliche Effekte.^{<a title="" href="#_ftn4" name="_ftnref4">04</a>} Gleichzeitig geht dies jedoch nicht ohne eine weitere Schw&auml;chung der Sicherungsfunktion, da damit Zinsanlagen &ndash; anders als bspw. Dividendenanlagen &ndash; nicht mehr der Verrechnungssteuer unterliegen. Mit Blick auf das verfassungsm&auml;ssige Gebot der rechtsgleichen Besteuerung (Art. 127 Abs. 2 BV) ist die unterschiedliche Behandlung verschiedener Anlagekategorien jedoch kritisch zu sehen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Frage ebenfalls bereits ge&auml;ussert: Es entschied, dass das Prinzip der Rechtsgleichheit verletzt sei, wenn das Steuererhebungsverfahren zu einer rechtlichen und tats&auml;chlichen ungleichen Steuerbelastung f&uuml;hre.^{<a title="" href="#_ftn5" name="_ftnref5">05</a>} Eine Sicherungssteuer auf inl&auml;ndischen Kapitalertr&auml;gen, die einzig Zinsanlagen von der Sicherungsfunktion ausnimmt, verletzt deshalb nach dieser Auffassung das Rechtsgleichheitsgebot. Es w&auml;re deshalb w&uuml;nschenswert, w&uuml;rde sich der Gesetzgeber de lege ferenda nochmals vertieft mit der Sicherungsfunktion der Verrechnungssteuer befassen. Eine Verbesserung der Sicherungsfunktion ist auch f&uuml;r das Gleichgewicht zwischen Steuerbeh&ouml;rden und Steuerpflichtigen entscheidend.</p> <p>Wir freuen uns sehr, dass wir f&uuml;r die aktuelle Schwerpunktausgabe zur Verrechnungssteuer wieder ausgewiesene Expertinnen und Experten aus der Steuerverwaltung und der Praxis gewinnen konnten. Nicole Krenger und Peter Schwarz erkl&auml;ren die Hintergr&uuml;nde des aktuellen Reformvorschlags und legen die Sicht der ESTV dar. Thomas Jaussi und Marian In&auml;bnit erl&auml;utern die aktuelle Regelung zur Besteuerung von Fremdkapital und geben eine aufschlussreiche Beurteilung der Reformvorschl&auml;ge aus Sicht der Praxis. Hans-Joachim J&auml;ger, Petrit Ismajli und Katharina Manz beleuchten wichtige Umsetzungsfragen des aktuellen Reformvorschlags, insbesondere bei der Konzernfinanzierung, bei strukturierten Produkten sowie bei der Behandlung von Ersatzzahlungen im Falle von Securities Lending. Elga Tozzi gibt einen ausgezeichneten &Uuml;berblick &uuml;ber die Praxis der ESTV zur R&uuml;ckerstattung der Verrechnungssteuer im internationalen Verh&auml;ltnis. Tobias Rohner und Selina Many befassen sich mit der Altreservenpraxis und nehmen eine umfassende Einordnung der aktuellen bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor. Thomas Schwab und Daniel Holenstein greifen verschiedene verfahrensrechtliche Fragen auf, wobei Daniel Holenstein zentrale Fragen des Verrechnungssteuerstrafrechts er&ouml;rtert.</p></article>