René Matteotti
Philipp Betschart
Aktuelle Fälle zum interkantonalen und internationalen Unternehmenssteuerrecht (2024)
Workshop von René Matteotti und Philipp Betschart anlässlich des ISIS)-Seminars vom 3. - 4. Juni 2024 mit dem Titel «Aktuelle Fälle zum interkantonalen und internationalen Unternehmenssteuerrecht»
Fall 1: Verwirkung im interkantonalen Doppelbesteuerungsrecht
1. Sachverhalt
Die A AG hat ihren statutarischen Sitz im Kanton Zug. Da sich der Sitz im Gebäude einer für Domiziladressen bekannten Treuhandgesellschaft befindet, erkundigt sich die Steuerverwaltung des Kantons Zug im Rahmen des Veranlagungsverfahrens bei der A AG, ob sich auch ihre tatsächliche Verwaltung im Kanton Zug befinde. Die A AG bejaht dies, obwohl sie im Kanton Zug tatsächlich nur über eine Domiziladresse verfügt. Am 30. September 2021 veranlagt die Steuerverwaltung des Kantons Zug die A AG für die Zuger Kantons- und Gemeindesteuern 2020.
Aufgrund einer Meldung erfährt das kantonale Steueramt Zürich am 30. September 2023, dass sich der Ort der tatsächlichen Verwaltung der A AG im Kanton Zürich befindet. Am 5. Februar 2024 schätzt es die A AG für die Zürcher Staats- und Gemeindesteuern 2020 ein.
Die A AG wehrt sich gegen die Besteuerung durch den Kanton Zürich und durchläuft den Rechtsmittelweg im Kanton Zürich erfolglos. Schliesslich erhebt sie Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Sie verlangt die Beseitigung der interkantonalen Doppelbesteuerung, primär durch den Kanton Zürich, eventualiter durch den Kanton Zug.
Fragen
- Im Verfahren vor Bundesgericht macht der Kanton Zug geltend, die A AG habe aufgrund ihres Verhaltens das Recht auf Beseitigung der Doppelbesteuerung verwirkt. Wie ist dieser Einwand zu beurteilen?
- Ändert sich etwas, wenn hohe Steuerbeträge im Raum stehen?
- Subsidiär macht die Steuerverwaltung des Kantons Zug vor Bundesgericht geltend, der Kanton Zürich habe sein Besteuerungsrecht verwirkt. Wie ist dieses Vorbringen zu beurteilen?
Fall 2: Société civile immobilière
1. Sachverhalt
A, mit Wohnsitz in Zürich, hält sämtliche Anteile an einer Société civile immobilière (SCI). Die SCI hält als einziges Aktivum eine von A genutzte Ferienliegenschaft in Frankreich mit einem Wert von 1 Million Euro.
Fragen
- Wie erfolgt die laufende Besteuerung der Anteile von A an der SCI (Einkommens- und Vermögenssteuer)?
- Welche Steuerfolgen ergeben sich bei einem Verkauf der Anteile an der SCI?
- Welche Steuerfolgen ergeben sich, wenn die SCI die Liegenschaft verkauft und den Verkaufserlös als Dividende an A ausschüttet?
- Welche Steuerfolgen ergeben sich, wenn A stirbt und seine Anteile an seine Nichte vererbt?
Fall 3: Ort der tatsächlichen Verwaltung bei mobiler Tätigkeit (BGer 9C_133/2023 vom 22. Juni 2023)
1. Sachverhalt
Die A AG wurde 2014 mit Sitz in U./ZG gegründet. Zweck der Gesellschaft gemäss Eintrag im Handelsregister ist die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Informationstechnologie (IT), insbesondere die Registrierung von Internet-adressen bzw. Domainnamen.
Die A-AG verfügt über fünf Aktionäre, von denen drei – B, C (Verwaltungsratspräsidentin) und D - den Verwaltungsrat besetzen. Alle Aktionäre sind bloss geringfügig für die Beschwerdeführerin tätig sind. Mit Ausnahme von B arbeiten alle Aktionäre hauptsächlich für die E-Services GmbH in Zürich, die sich ebenfalls im Besitz von zwei der Aktionäre befindet und ähnliche Dienstleistungen erbringt.
Die Infrastrukturkosten der Beschwerdeführerin in Zug betragen CHF 4'000, was im Vergleich zu den Räumlichkeiten der E-Services GmbH auffällig niedrig ist. Ausserdem wurden Arbeitsplätze und Supportaufgaben auf die E-Services GmbH ausgelagert. Den Arbeitnehmern der E-Services GmbH stehen Arbeitsplätze auf 500 m2 zur Verfügung, mithin deutlich mehr Platz, als die A AG in Zug hat.
Des Weiteren wohnen B und C in der Nähe des Standorts der Beschwerdeführerin in Zug, während die anderen drei Aktionäre alle im Kanton Zürich wohnten.
Das Verwaltungsratsmitglied B übte in Zug administrative Aufgaben und Entscheidungen bezüglich der Internetseite und des Logos aus. Verschiedene Geschäftsessen erfolgen nachweislich im Kanton Zug.
Die A AG weigert sich trotz Aufforderung der Steuerbehörden beweiskräftige Unterlagen über die Buchhaltung einzureichen, die Tätigkeit des Verwaltungsrats C zu substanziieren und Nachweise über das Arbeitsverhältnis von D beizubringen.
Die Steuerverwaltung des Kantons Zürich lehnte es ihrerseits ab, die Verwaltungspräsidentin der Beschwerdeführerin zu befragen.
Das Kantonale Steueramt Zürich stellt sich auf den Standpunkt, dass die A AG ihren Ort der tatsächlichen Verwaltung für die Jahre 2015 bis 2018 in Zürich hat. Das Verwaltungsgericht bestätigte diese Auffassung und entschied zudem, dass die AG auch für das Jahr 2019 einen Ort der tatsächlichen Verwaltung in Zürich unterhielt.
Frage
- Wie ist der Ort der tatsächlichen Verwaltung für die Jahre 2015 bis 2019 zu bestimmen?
Fall 4: Ort der tatsächlichen Verwaltung bei mobiler Tätigkeit (BGer 9C_722/2022 vom 6. November 2023)
1. Sachverhalt
Am 23. Dezember 2010 wurde die A GmbH gegründet und im Handelsregister des Kantons Schwyz mit Sitz in U. eingetragen. Das Stammkapital beträgt CHF 40'100 und wird von den Gesellschaftern B (CHF 20'100) aus V. (Gemeinde W.)/SG und der C GmbH (CHF 20'000) mit Sitz in C (Deutschland) gehalten. B ist als Geschäftsführer eingetragen. Die Gesellschaft hat sich auf die Beratung im Bereich der Konzeption, Organisation und Durchführung von Veranstaltungen und Festivals spezialisiert, sowohl als Gesamtauftrag als auch in einzelnen Bereichen wie Marketing, Logistik und Gastronomie. Sie ist auch im Bereich der Unternehmensberatung und im Ticketverkauf tätig sowie in allen Geschäften, die mit ihrem Zweck zusammenhängen. Die Geschäftstätigkeit im Bereich des An- und Verkaufs von Tickets für Grosssportveranstaltungen durch den Geschäftsführer und andere Freelancer wurde bei verschiedenen Veranstaltungen vor Ort ausgeführt.
In tatsächlicher Hinsicht wurde festgestellt, dass kein geografischer Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit besteht. Die Tätigkeit der Gesellschaft am statutarischen Sitz hatte keine wirkliche Bedeutung, da sie über keine eigene Infrastruktur und mit Ausnahme des Geschäftsführers über kein eigenes Personal verfügte. Der Geschäftsführer war die einzige festangestellte Person der Gesellschaft und traf die wesentlichen Geschäftsentscheidungen.
Die Gesellschaft hatte lediglich ein möbliertes Sitzungszimmer zur Mitbenutzung in U. für CHF 4’000/Jahr gemietet. Die Entschädigung wurde gemäss entsprechendem Kontoauszug ("rent or lease payments") nur im Jahr 2016 bezahlt. Schliesslich wurde die gesamte Korrespondenz an den Geschäftsführer im Kanton St. Gallen weitergeleitet. Gewisse administrative Tätigkeiten fanden indes tatsächlich in Schwyz statt.
Fragen
- Wie ist der Ort der tatsächlichen Verwaltung bei mobiler Tätigkeit zu bestimmen?
- Wie ist die Beweislast zu verteilen, wenn es sich um schwer zu lokalisierende Dienstleistungen handelt?
- Unter welchen Voraussetzungen können rechtskräftige Veranlagungen aufgehoben werden um eine interkantonale Doppelbesteuerung zu vermeiden?
Fall 5: Verfügungsmacht bei einer Betriebsstätte (BGer 9C_647/2022 vom 23. Juni 2023)
1. Sachverhalt
Die A AG mit Sitz im Kanton Zug wurde seit dem Jahr 2011 als gemischte Gesellschaft besteuert. Mit der Einreichung der Steuererklärung 2017 beantragte die A AG eine ordentliche Besteuerung unter Vorbehalt der Anerkennung einer Betriebsstätte in Shanghai (E.).
Der Vertrag für die Miete der Räumlichkeiten in Shanghai wurde von der Muttergesellschaft der A AG abgeschlossen. Die im Büro E. beschäftigten Personen waren weder bei der A AG angestellt noch dieser organisatorisch unterstellt. Der Standortleiter (COO) rapportierte direkt der Muttergesellschaft. Hingegen hat die A. AG die Kosten im Zusammenhang mit dem Standort E. und dessen Umbau übernommen.
Die Kantonale Steuerverwaltung Zug anerkannte die Betriebsstätte in Shanghai nicht und rechnete die auf diese entfallenden Betriebskosten von CHF 374'985 auf.
Fragen
- Wann liegt eine Verfügungsmacht vor, wenn diese formell nicht gegeben ist?
- Muss gemäss dem Abkommensrecht ein Teil des Gewinns von der Besteuerung ausgenommen werden, wenn keine Verfügungsmacht vorliegt?
- Liegt eine verdeckte Gewinnausschüttung vor, wenn die Verfügungsmacht verneint wird?
Fall 6: Quantitativ und qualitativ wesentliche Tätigkeit einer Betriebsstätte (BGer 9C_639/2022 vom 22. November 2023)
1. Sachverhalt
Die A AG hat ihren statutarischen Sitz im Kanton Zürich. Ihr Unternehmenszweck liegt in der Organisation von Sammelaktionen. Die A. AG unterhält eine permanente Geschäftsstelle im Kanton Tessin, die eine 6-Zimmer-Wohnung umfasst. Darüber hinaus hat die A. AG Ad-hoc-Räumlichkeiten im Kanton Waadt gemietet. Diese bestehen aus Geschäftsräumen auf zwei Etagen mit Schaufenstern, einem Waschraum und einem Büro. Die eigentlichen Fundraisingaktivitäten fanden sowohl im Kanton Tessin als auch im Kanton Waadt auf öffentlichem Grund statt.
Mit definitiven Schlussrechnungen vom 7. April 2015 (2013), 6. Juni 2016 (2014) und 10. April 2017 (2015) unterstellt der Kanton Zürich für die Steuerperioden 2013 bis 2015 100 Prozent des Gewinns und des Kapitals der A. AG seiner Steuerhoheit.
Mit Schlussrechnungen vom 7. September 2017 nimmt die Tessiner Steuerverwaltung für dieselbe Steuerperiode 2013 bis 2015 eine Steuerpflicht der A AG kraft wirtschaftlicher Zugehörigkeit an. Damit unterstellt der Kanton Tessin einen Teil des Gewinns der A AG seiner Steuerhoheit.
Mit Schlussrechnung vom 24. September 2018 stellt die Waadtländer Steuerverwaltung für die Steuerperiode 2015 eine Steuerpflicht der A AG kraft wirtschaftlicher Zugehörigkeit fest. Der Kanton Waadt unterstellt damit auch ein Teil des Gewinns der A. AG seiner Steuerhoheit.
Die A AG erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Sie beantragt im Wesentlichen die Aufrechterhaltung der Tessiner und Waadtländer Schlussrechnungen und die Aufhebung und Neufestsetzung der Zürcher Schlussrechnungen für die Steuerperioden 2013 bis 2015. Eventualiter beantragt die A. AG die Feststellung, dass die A. AG in den Steuerperioden 2013 bis 2015 (TI) und 2015 (VD) weder im Kanton Tessin noch im Kanton Waadt eine Betriebsstätte hatte, und die Aufhebung der Schlussrechnungen beider Kantone mit Rückerstattung der zu Unrecht erhobenen Steuern.
Fragen
- Hat der Kanton Tessin sein Besteuerungsrecht mit Bezug auf die Steuerperioden 2013-2015 verwirkt?
- Erfüllen die Geschäftsstelle im Kanton Tessin und die Ad-hoch-Räumlichkeiten im Kanton Waadt die Merkmale einer Betriebsstätte, die eine Steuerpflicht kraft wirtschaftlicher Zugehörigkeit begründet?