Slavica Loeb-Lazarevic
Laetitia Fracheboud
Alltägliche sowie besondere Fragen im Verrechnungssteuerverfahren
Workshop von Slavica Loeb-Lazarevic und Laetitia Fracheboud anlässlich des ISIS)-Seminars vom 05. Mai 2025 mit dem Titel «Alltägliche sowie besondere Fragen im Verrechnungssteuerverfahren»
Fall 1: Verwaltungsverfahren und Verwaltungsstrafverfahren
1. Sachverhalt
Die Olympia AG ist eine in der Schweiz ansässige Gesellschaft. Sie bezweckt hauptsächlich das Erbringen von Finanzdienstleistungen. Gemäss dem Aktienbuch besitzt Herr N 990 Aktien der Gesellschaft, Herr O deren 10. Herr N ist Verwaltungsrat der Gesellschaft mit Einzelzeichnungsberechtigung.
In den Jahren 2016-2018 bezahlte die Gesellschaft verschiedene Rechnungen, die sich als Privataufwendungen für Herrn N herausgestellt haben.
Die Olympia AG hat der ESTV die Jahresrechnung 2016 am 17. Oktober 2017, die Jahresrechnung 2017 Ende September 2018 und die Jahresrechnung 2018 im Juli 2019 eingereicht, jeweils ohne eine geldwerte Leistung zu deklarieren.
Die ESTV führte im Juli 2020 eine Buchprüfung bei der Olympia AG durch. Auf die Einforderung zahlreicher fehlender Unterlagen reagierte die Gesellschaft nicht.
Gestützt auf die Ergebnisse der Buchprüfung lag der Verdacht nahe, dass die Olympia AG geldwerte Leistungen ausgerichtet hatte. In der Folge wurde von der ESTV-ASU eine Strafuntersuchung gegen Herrn N eingeleitet, um den Sachverhalt vollständig aufzuklären. In diesem Verfahren reichte die Olympia AG, als Auskunftsperson, verschiedene zusätzliche Unterlagen ein. Die ESTV-ASU erstellte ein Schlussprotokoll, eröffnete dieses dem Beschuldigten Herrn N und gewährte ihm Einsicht in die vorhandenen Akten.
Am 15. Dezember 2021 teilte die ESTV der Olympia AG mit, dass sie mit diesem Schreiben die Verjährung für allfällige im Geschäftsjahr 2016 erbrachten steuerbaren Leistungen unterbreche. Am 9. Dezember 2022 wurde ein analoges Schreiben für das Jahr 2017 verschickt, dito am 12. Dezember 2023 für das Geschäftsjahr 2018.
Im Juli 2024 stellte die ESTV der Olympia AG und Herrn N eine Rechnung betreffend die Verrechnungssteuer auf den in den Geschäftsjahren 2016-2018 erbrachten geldwerten Leistungen. Herr N wurde als solidarisch Haftender gemäss Artikel 12 VStrR ins Recht gefasst.
Am 20. Oktober 2024 eröffnete die ESTV ihren entsprechenden (Erst-)Entscheid. Im Vorfeld des Entscheids gab die ESTV der Olympia AG die Möglichkeit, zur festgelegten Höhe der geldwerten Leistung Stellung zu nehmen. Daraufhin reichte die Olympia AG verschiedene, jedoch lückenhafte Belege ein. Ohne es der Olympia AG mitzuteilen, zog die ESTV Unterlagen bei, die sie im Rahmen der Auskunft eines der Gesellschaftsorgane als Auskunftsperson im Verwaltungsstrafverfahren gegen Herrn N erhalten hatte.
Die Olympia AG und Herr N erhoben gegen diesen Entscheid Einsprache im November 2024 mit folgenden Anträgen bzw. Themenbereichen:
- Feststellungsbegehren, es seien keine geldwerten Leistungen ausgerichtet worden
- Antrag auf Sistierung, bis das parallellaufende Verwaltungsstrafverfahren abgeschlossen ist
- Verletzung des rechtlichen Gehörs
- Antrag auf Zeugeneinvernahme
- Antrag auf mündliche Verhandlung
- Beginn des Verzugszinsenlaufs
- Verjährung
Fragen
- Welche verfahrensrechtlichen Aspekte sind im vorliegenden Fall zu beachten?
- Welche materiell-rechtlichen Fragen stellen sich und wie sind diese zu beantworten?
Fall 2: Zins auf verdecktem Eigenkapital
1. Sachverhalt
Die amerikanische Jet Group hält über eine amerikanische Tochtergesellschaft, die Jet Europe LLC, unter anderem eine Beteiligung an der Jet Switzerland AG, Zug.
Im März 2025 gewährt die Jet Europe LLC der Jet Switzerland AG eine Kreditlinie von bis zu USD 50 Mio. Entsprechend dem für die ganze Gruppe geltenden Transferpreiskonzept sieht der Kreditvertrag vor, dass das Darlehen zu einem Zins von Saron + 4.25% zu verzinsen ist. Der Zins wird jährlich kapitalisiert und ist zahlbar bei Rückzahlung des Kredits.
Im März 2026 finalisiert die Gruppe die Jahresrechnung der Jet Switzerland AG nach OR und stellt fest, dass diese per 31. Dezember 2025 über verdecktes Eigenkapital verfügt und teilweise auf verdecktem Eigenkapital Zinsaufwand verbucht hat.
Am 25. April 2026 findet die ordentliche Generalversammlung der Jet Switzerland AG statt, anlässlich derer die Jahresrechnung (inkl. Zinsaufwand) genehmigt wird.
Fragen
- Wann ist die geldwerte Leistung (in Form von Zinsaufwendungen auf verdecktem Eigenkapital) zu deklarieren?
- Wie kann die Verrechnungssteuer auf die Jet Europe LLC überwälzt werden?
Variante
Im Ausgangssachverhalt wird die Kreditlinie nicht von der Jet Europe LLC, sondern von einem unabhängigen ausländischen Kreditinstitut gewährt. Die amerikanische Konzernmuttergesellschaft JetCo Ltd. gewährt dem Kreditinstitut für die Kreditlinie eine Garantie.
Fragen
- Wer gilt mit Bezug auf die Verrechnungssteuer als Leistungsempfängerin?
- Wie ist für die Deklaration und Überwälzung der Verrechnungssteuer vorzugehen?
- Was ist verfahrensrechtlich zu beachten, wenn die Kreditlinie als Obligation nach Art. 4 Abs. 1 lit. a VStG qualifiziert?
Fall 3: Meldeverfahren/Rückerstattungsverfahren
1. Sachverhalt
Die NoName GmbH beschloss anlässlich der a.o. Generalversammlung vom 15. November 2017 eine a.o. Dividende von insgesamt CHF 5 Mio. mit Fälligkeit am gleichen Tag. Im Zeitpunkt der Dividendenfälligkeit war die #AG zu 10% an der NoName GmbH beteiligt.
Am 29. November 2017 deklarierte die NoName GmbH die Dividende mit Formular 110 der ESTV und reichte zugleich ein Gesuch um Meldung mit Formular 106 ein, welches die ESTV mit Schreiben vom 15. Februar 2018 abwies, da die #AG die
(damals) notwendige Beteiligungsquote von 20% nicht erfüllte. Daraufhin überwies die NoName GmbH der ESTV die entsprechend auf diesem Teil geschuldete Verrechnungssteuer. Ferner wurde der zugehörige Verzugszins beglichen.
Am 19. Mai 2021 erhielt die ESTV von der #AG einen Antrag auf dem Formular 25, mit welchem um Rückerstattung der auf der ausserordentlichen Dividende vom 15. November 2017 entrichteten Verrechnungssteuer ersucht wurde. Darin erklärte die #AG, dass die Rückerstattung der Verrechnungssteuer ausnahmsweise trotz «Verjährung» zu gewähren sei und, dass ihr bewusst sei, dass es sich um ein Versäumnis der #AG handle. Mit Schreiben vom 1. Juni 2021 teilte die ESTV der #AG mit, dass ihr Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer infolge verspäteter Antragsstellung verwirkt sei. In einem weiteren Schreiben beklagten beide Gesellschaften, das damalige Gesuch um Meldung der NoName GmbH sei zu Unrecht abgelehnt worden.
Am 13. Februar 2023 erliess die ESTV einen Entscheid, in welchem sie ihre Ansicht betreffend Verwirkung des Rückerstattungsanspruches bestätigte. In einem separaten Entscheid verfügte sie ausserdem, dass das Meldeverfahren (im Konzern) zu Recht abgelehnt und die Verrechnungssteuer daher zu Recht entrichtet worden sei. Am 14. März 2023 erhoben beide Gesellschaften Einsprache gegen die (Erst-) entscheide.
- Beide Gesellschaften verlangen die Gewährung des Meldeverfahrens
- Die NoName GmbH verlangt die Steuerrückvergütung infolge Bezahlung einer Nichtschuld, mit der Begründung, die VSt-Schuld sei bereits durch Meldung erfüllt (Art. 12 Abs. 1 VStV); es bestünde ein unmittelbarer Rechtanspruch aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 VStG
- Die #AG stellt sich auf den Standpunkt, sie habe der ESTV den Antrag auf Rückerstattung bereits im Jahr 2020 zukommen lassen; damit sei keine Verwirkung eingetreten; bei der Frist nach Art. 32 VStG handle es sich um eine Ordnungsfrist und keine Verwirkungsfrist
- Subsidiär sei von Einhaltung der Frist nach Art. 32 Abs. 1 VStG durch Einreichung des Formulars 106 auszugehen
Fragen
- Welche Erkenntnisse ergeben sich für das Meldeverfahren?
- Welche Erkenntnisse ergeben sich für das Rückerstattungsverfahren?
Fall 4: Verkauf ex Dividende
1. Sachverhalt
Am 13. Mai 2025 schliesst die Weiland AG, Zürich, mit der Rossi II BV, Amsterdam, einen Aktienkaufvertrag betreffend 100% der Aktien an der Koch AG, Baden, ab. Die Rossi II BV ist eine extra zu diesem Zweck errichtete 100%-ige Personal Holding von Fabio Rossi, der Wohnsitz in Italien hat und dort von der "Imposta forfettaria" (das Pendant zur Schweizer Besteuerung nach dem Aufwand) profitiert.
Der Kaufpreis für die Aktien beträgt CHF 65 Mio. und berücksichtigt unter anderem, dass die Koch AG nach Vollzug des Aktienkaufvertrags den Gewinn für das Jahr 2024 von CHF 10 Mio. an die Weiland AG ausschütten wird.
Am 12. Juni 2025 (Variante: am 30. Juni 2025) genehmigt die Ordentliche Generalversammlung der Koch AG gestützt auf die Jahresrechnung für das Geschäftsjahr endend am 31. Dezember 2024 eine Dividende von CHF 10 Mio., zahlbar am 1. Juli 2025. Gemäss vertraglicher Vereinbarung wird die Dividende vollumfänglich an die Weiland AG ausgeschüttet.
Am 14. Juni 2025 wird der Aktienkaufvertrag vollzogen. Im Hinblick auf zukünftige Dividenden reicht die Rossi II BV bei der ESTV einen Rulingantrag betreffend ihre Rückerstattungsberechtigung für die Verrechnungssteuer ein.
Am 18. Oktober 2025 beschliesst die Rossi II BV als neue Alleinaktionärin der Koch AG eine Interimsdividende aus laufenden Gewinnen seit dem 1. Januar 2025 in Höhe von CHF 5.5 Mio. Die Koch AG meldet die Dividende der ESTV am 30. Oktober 2025 auf den Formularen 103 und 108. Die Rossi II BV hat zu diesem Zeitpunkt noch keinen Antrag auf Formular 823B eingereicht.
Fragen
- Wer ist im Hauptsachverhalt mit Bezug auf die Dividende vom 12. Juni 2025 grundsätzlich zur Rückerstattung der Verrechnungssteuer berechtigt und welches Verfahren findet Anwendung? Wie verhält es sich in der Variante?
- Wird die ESTV den Rulingantrag betreffend die Rückerstattungsberechtigung der Rossi II BV behandeln?
- Welche Anforderungen muss die Rossi II BV erfüllen, um die volle Rückerstattung der Verrechnungssteuer bzw. die Anwendung des Meldeverfahrens verlangen zu können?
- Angenommen, die Rossi II BV ist zur vollen Rückerstattung der Verrechnungssteuer berechtigt, kann sie mit Bezug auf die Dividende vom 18. Oktober 2025 das Meldeverfahren anwenden?
Fall 5: (Fahrlässige?) Nichtdeklaration
1. Sachverhalt
Mr. und Mrs. Smith wohnen seit 2018 in Meggen (LU) und werden dort nach dem Aufwand besteuert. Das Ehepaar hält seit Wohnsitznahme über eine Immobiliengesellschaft, die ImmoSmith GmbH, zwei Liegenschaften in Meggen: eine luxuriöse Villa mit kleinem Privatstrand sowie eine Terrassenwohnung am Hang mit Blick über den See und die Berge.
Die Villa vermietet die ImmoSmith dem Ehepaar zum steuerlichen Eigenmietwert. Die Terrassenwohnung vermietet die ImmoSmith zu einem Freundschaftspreis unter dem steuerlichen Eigenmietwert an den Sohn eines befreundeten Ehepaars, der in Luzern studiert.
In der Kontrollrechnung zur Steuererklärung deklarieren die Smiths jeweils den siebenfachen Eigenmietwert der Villa als Mindestbemessungsgrundlage bzw. Kontrollgrösse. Da die ImmoSmith keine Dividenden ausschüttet, deklarieren die Smiths keine (weiteren) Erträge aus Schweizer Vermögenswerten.
Im Jahr 2024 eröffnet die Steuerverwaltung des Kantons Luzern ein Nachsteuerverfahren für die bereits definitiv veranlagten Steuerperioden 2019 und 2020 und rechnet für die noch nicht veranlagten Steuerperioden 2021 und 2022 eine verdeckte Gewinnausschüttung der ImmoSmith in Höhe der Differenz zwischen der Marktmiete und der verrechneten Miete für die Terrassenwohnung auf.
Die Steuererklärungen für die Jahre 2023 und 2024 wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingereicht.
Mr. und Mrs. Smith haben keine Kenntnis davon, ob bzw. wann die Steuerverwaltung des Kantons Luzern den Sachverhalt der ESTV melden wird.
Frage
- Welches Vorgehen empfiehlt sich für das Ehepaar Smith mit Blick auf die Rückerstattung der Verrechnungssteuer und weshalb?